Behinderung und Corona, 83 Millionen Corona-Behinderte in Deutschland

Durch | 12. Mai 2020

Behinderung und Corona

Behinderung und Corona83 Millionen Corona-Behinderte in Deutschland – Es ist etwas völlig anderes, wenn man selbst betroffen ist. Ob Hunger, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Armut. Solange es nur die anderen betrifft, ist alles nicht so schlimm. Schlimm wird es erst, wenn es einen selbst trifft oder treffen könnte.

Behinderung und die Coronakrise

Es ist zwar immer wieder die Rede davon, dass die Coronakrise die Menschen besser machen würde. Zumindest ist das die Hoffnung einiger Optimisten, die sehen, wozu die Deutschen in der Lage sind, wenn es darauf ankommt: da ist Solidarität, Hilfsbereitschaft, Kreativität, Einsicht und Einfallsreichtum. Die Deutschen erkennen sich selbst kaum wieder. Sie sind von sich richtig ergriffen. Aber diese Selbstberührtheit beruht auf einer Selbsttäuschung. Die Deutschen möchten sich gerne so sehen und sich gut dabei fühlen.

Situation der Behinderten in Zeiten der Coronakrise

Es ist nicht schwierig, diese Feststellung zu untermauern, die viele als empörend empfinden werden. Wir müssen uns nur einmal die Situation der Behinderten in Deutschland anschauen. Was die Menschen ohne Behinderung in dieser Krise jetzt durchmachen, müssen die Menschen mit Behinderung schon ihr Leben lang und vermutlich bis zum Ende ihrer Tage ertragen. Aber auf diesem Auge sind wir blind – eine Sehbehinderung, unter der nicht wir, sondern die leiden, die deswegen nicht im gesellschaftlichen Fokus stehen.

Menschen mit Handicap leben immer im Krisenmodus

Wir machen jetzt einmal beide Augen auf und schauen, was es mit dieser Behauptung auf sich hat. Wir vergleichen die allgemeine Corona-Situation mit dem, was Menschen mit Handicap tagtäglich zu erleiden haben. In den Beschreibungen müssen nur die Worte Erkrankte und Krankheit durch die Worte Behinderte und Behinderung ersetzt werden und schon wird klar, dass das Leben der meisten Menschen mit Handicap in einem einzigen Krisenmodus stattfindet. Am Ende sollten wir alle in uns gehen und über Gerechtigkeit, Fairness, Menschenwürde, Inklusion, Teilhabe, Solidarität, Hilfsbereitschaft, Mitgefühl und Mitmenschlichkeit nachdenken.

Freizeit, Sport und Fitness

Ein kurzfristiges Treffen mit Freunden zum Grillen ist nicht möglich. Es gibt keinen Platz, wo die Grillparty stattfinden könnte. Außerdem können sich die Freunde nicht spontan auf den Weg machen. Das ist verboten. Es ist auch nicht möglich, mal schnell das Fitness-Studio aufzusuchen. Dazu muss erst einmal ein Antrag bei der Krankenkasse gestellt werden, der geprüft und entweder genehmigt oder abgelehnt wird. Die meisten Fitness-Studios kommen sowieso nicht in Frage. Spontan die Turnschuhe anziehen und zum Laufen raus an die frische Luft gehen, geht gar nicht. Bier einkaufen, um es dann gemütlich zusammen mit anderen beim Public Viewing zu trinken oder sich zum nächsten Fußballspiel im Stadion verabreden, ist nicht erlaubt. Die Eltern am Sonntagnachmittag zu Kaffee und Kuchen einladen, ist ebensowenig machbar wie ein Kirchgang, eine Chorprobe oder ein Kinobesuch.

Isolation und Abstand

Die Situation des Einzelnen kann als gesellschaftliche und familiäre Isolation bezeichnet werden. Alleine zuhause vor dem Fernseher oder am PC sitzen. Mit Computerspielen die Zeit herumbringen. Früh ins Bett gehen, weil abends nichts mehr los ist. Das Liebesleben lässt zu wünschen übrig, denn ein Zusammensein ist nicht erlaubt. Händchenhalten oder Küssen in der Öffentlichkeit ist verboten. Der Mindestabstand von 1,5 Metern oder mehr wird überall und jederzeit eingehalten. Der Nebenplatz im Bus bleibt immer frei. In den Warteschlangen wird auf Abstand geachtet. Ein Händeschütteln zur Begrüßung oder zur Verabschiedung gibt es nicht, denn eine Ansteckung mit der Krankheit muss verhindert werden.

Reisen und Urlaub

Es gibt kaum buchbare Unterkünfte. Das Reisen ins Ausland ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn Reisen überhaupt möglich sind, dann sind spezielle Wünsche für spezielle Bedürfnisse schwierig zu buchen und sehr teuer. Die Verkehrsmittel sind stark eingeschränkt und stehen kaum zur Verfügung. Die wenigen Reisemöglichkeiten müssen extrem gut vorbereitet sein. Die Einreise Erkrankter ist wegen der Ansteckungsgefahr nicht erwünscht oder erst gar nicht möglich. Traumurlaube an Traumstränden oder auf Traumschiffen sind in unerreichbarer Ferne. Urlaub ist maximal innerhalb Deutschlands möglich. Am ehesten noch innerhalb des eigenen Bundeslandes. Reisebüros und Reiseveranstalter sind aufgrund der Situation nicht in der Lage, Angebote zu erstellen.

Grundrechte und Menschenwürde

Die Freiheit und die Freizügigkeit sind massiv eingeschränkt. Es ist nicht erlaubt, sich da aufzuhalten, wo es besonders schön ist und alle hinwollen. Angeblich zum Schutz der eigenen Sicherheit ist die direkte Kontaktaufnahme im Freien verboten. Anzeichen einer Erkrankung führen sofort zur Isolation und langer Quarantäne. Ein Widerspruch gegen die Einschränkungen ist politisch nicht gewollt und wird durch bürokratische Erschwernisse unmöglich gemacht. Alles muss geschluckt werden. Ärzte und medizinisches Personal entscheiden über Unterbringung und Behandlungsmethoden, ein Mitspracherecht gibt es nicht. Erkrankte werden wie Aussätzige behandelt und in separaten Klinik- und Pflegeheimtrakten untergebracht. Eine eigene Entscheidung darüber, welche Therapie gewünscht oder abgelehnt wird, kann der Erkrankte nicht treffen, dafür gibt es die verschiedenen Vollmachten.

Kurzarbeit

Jeder hat einen Anspruch auf Arbeit und darauf, sein eigenes Geld zu verdienen. Erkrankte sind davon aber ausgenommen. Sie können selbstverständlich nicht arbeiten. In Niedriglohnbranchen, dazu gehören auch Behindertenwerkstätten, ist Kurzarbeitergeld nicht vorgesehen. Wer das Pech hat, in einem solchen Job arbeiten zu müssen, muss zusehen, wie er sich finanziell über Wasser hält. Unverschuldete Arbeitslosigkeit schützt nicht vor Anträgen, Ämtergängen, unwilligen Sachbearbeitern, Offenlegung aller relevanten Daten und Abhängigkeit vom guten Willen eines hoffentlich engagierten persönlichen Betreuers.

Maskenpflicht

Beim Einkaufen und bei Fahrten im öffentlichen Nahverkehr besteht eine Maskenpflicht. Das Atmen fällt schwerer und es ist heiß unter den Masken. Das Gesicht juckt und die Schminke verwischt. Der Stoff der Maske verschluckt die Stimme, das Verstehen wird schwieriger und das Zuhören anstrengender.

  • Was ist mit den Menschen, die die Gesichter ihres Gegenübers sehen müssen, um mit ihnen kommunizieren zu können?
  • Schwerhörigen und den Gehörlosen?
  • Menschen denen es im Alltag unmöglich ist, sich eine Maske über Nase und Mund zu stülpen, weil sie vielleicht gar keine Arme oder Hände oder Finger haben?
  • Die Maskenpflicht ist eine Zumutung? Für wen eigentlich genau?

Einkaufshilfen

Risikogruppen und einzelne Risikopatienten sollen besser zuhause bleiben und Menschen meiden. Das Einkaufen und verschiedene Botengänge werden von Freiwilligen erledigt, von Freunden, Familienmitgliedern oder Nachbarn. Schüler und Studenten melden sich bereitwillig für diese ehrenamtlichen Arbeiten, dazu gehört zum Beispiel auch das Gassigehen mit Hunden von Alleinerziehenden in systemrelevanten Berufen. Wunderbare Ideen, wunderbare Umsetzung. Warum gab es keine nachbarschaftlich organisierten Einkaufshilfen für Menschen mit Behinderung vor Corona? Wird es sie auch noch nach Corona geben? Das Virus geht, die Behinderung bleibt.

Behinderung und Corona – Was bleibt und was kommt?

Warum ist alles, was den Menschen mit Behinderung zugemutet wird, für Menschen ohne Behinderung eine Zumutung? 83 Millionen Deutsche sehen sich durch Corona und die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zum Teil massiv in ihren Rechten eingeschränkt. Sie sehen sich als Corona-Opfer. Ihre Klagen klingen wie die Beschreibung einer Corona-Behinderung. Tatsächlich beschreiben Sie aber die Sorgen, Nöte und den Alltag eines Lebens mit Handicap. All das Jammern und all die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen übersehen komplett die Tatsache, dass Menschen mit Behinderung jeden einzelnen Tag ihres Lebens das und noch vieles mehr durchleiden, was die Deutschen seit ein paar Wochen erleben.

Die Reiseeinschränkungen, der Mindestabstand und die Kontaktsperre werden irgendwann Geschichte sein. Dann kann wieder gejoggt, gegrillt und gereist werden. Das Coronavirus und die Maßnahmen dagegen werden Teil unseres kulturellen Gedächtnisses werden. Aber was ist mit den Menschen mit Handicap? Sie werden weiterhin vergessen.

83 Millionen Menschen mit Corona-Behinderung in Deutschland hätten jetzt die Chance, ihre Haltung zu ändern.

Aber sie werden es vermutlich nicht tun. Es ist ein Gerücht, dass eine Krise die Menschen besser macht. Vielleicht werden die Guten noch besser. Es gibt unzählige Heldinnen und Helden, die jeden Tag an ihre Grenzen und darüber hinaus gehen. Die anderen bleiben wie sie sind, mit der Tendenz hin zu noch mehr Egoismus, Ignoranz und Intoleranz.

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